
In den Augen der Lehrerinnen funkeln Tränen. Es sind Tränen des Stolzes. Die Schüler der Klasse 6b zappeln herum. Noch ahnen sie nichts. Doch dann lüften Klassenleiterin Jessica Schumann und ihre Stellvertreterin Antje Prigge das Geheimnis: Die 6b hat gewonnen. Unter 130 Projekten kürte die Jury des Schülerlandeswettbewerbs "Erinnerungszeichen" sie mit dem ersten Landespreis für ihre außergewöhnliche Arbeit mit dem Titel "Myrian Bergeron - die gute Seele für die Kinder".
Etwa ein Jahr lang hatten die Jugendlichen von der Greta-Fischer-Schule in Dachau Interviews geführt, historische Quellen analysiert und gebastelt, um das Projekt zu vollenden. Die Schule, die ein sonderpädagogisches Förderzentrum ist, und die Geschichte von Myrian Bergeron haben eine enge Verbindungen und so scheint es wenig verwunderlich, dass sich die Schüler für ihr Projekt eben jenes Thema ausgesucht hatten. Die Namensgeberin der Schule, Greta Fischer, hatte während der Nachkriegszeit im Kloster Indersdorf gewirkt und ihr Leben dem Schutz der überlebenden Waisenkinder des Holocaust gewidmet. Die Sozialarbeiterin hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte elternloser Kinder und ihren unfassbaren Überlebenswillen in die Welt hinauszutragen. Eines dieser Kinder war die kleine Myrian Bergeron, die im Alter von etwa zwei Jahren in das Kinderzentrum der Vereinten Nationen in Markt Indersdorf kam.
Einen wichtigen Teil ihres Erwachsenenlebens nahm ihre Mutterrolle ein: Myrian Bergeron hatte zwei leibliche Töchter und adoptierte sieben weitere Kinder. Neben der Erziehung war es ihr stets ein besonderes Anliegen, sich um traumatisierte Kinder zu kümmern und deren Leid zu vertreten. Der Schutz der Kinder lag ihr immer am Herzen. Im Alter von 75 Jahren begab sie sich auf die Suche nach ihrer eigenen Kindheit und fand Antworten in Markt Indersdorf und in der Greta-Fischer-Schule.
So begann das Projekt der Klasse 6b mit dem Besuch der in Amerika lebenden Myrian Bergeron an der Greta-Fischer-Schule im Frühjahr 2019. Die Schüler hatten die Möglichkeit, ein persönliches Gespräch mit Bergeron zu führen und trugen im Laufe des Nachmittags - in eigentlich schulfreier Zeit - ein Lied für sie vor. Das ergreifende Zusammentreffen hatte nachhaltig Eindruck bei den Schülern hinterlassen, vor allem Bergerons Herzlichkeit blieb ihnen in Erinnerung.
Nur wenige Wochen nach diesem Nachmittag starb Myrian Bergeron. Ein Teil ihrer Asche wurde im Oktober vergangenen Jahres auf dem denkmalgeschützten Friedhof in Markt Indersdorf beigesetzt. Als die Schüler der Greta-Fischer-Schule die traurige Nachricht erhielten, schrieben sie ihre Empfindungen und Gedanken, die sie mit Bergeron verbinden, auf und übergaben der Familie in Amerika ihr Gedenkbuch. Dieses emotionale Erlebnis begleitete die Schüler auch, als die Glocken der kleinen Kapelle des Friedhofs auf der Maroldstraße lange wieder verstummt waren.
Die Schüler beschlossen im Zuge des Wettbewerbs, das Leben Bergerons kreativ nachzuerzählen. Auf diese Weise setzten sie sich gleichzeitig mit der Identität der eigenen Schule auseinander. Aus der persönlichen Begegnung und durch die lange Recherche erhielten die Schüler viele Informationen. Drei gläserne Flaschen stehen sinnbildlich für die drei Phasen in Bergerons Leben: Die Kindheit in Deutschland, die Erwachsenenzeit in Amerika und die Rückkehr nach Deutschland. "Es ist ein Glücksfall gewesen, weil die Schüler mit sehr viel Begeisterung und großem Interesse recherchierten", so Schumann.
Die Mühen haben sich gelohnt. Der Erfolg des Projekts, so Schumann, beruht darauf, dass "es aus den Herzen der Schüler" gekommen sei. Davon zeugen auch die vielen kleinen, liebevollen Details. Bei der Preisverleihung wurde den Jugendlichen vor Augen geführt, dass sie mit ihrem besonderen Engagement für das Projekt etwas Wundervolles geschaffen haben. Nach ergreifenden Reden der Lehrerinnen, in denen sie das außergewöhnliche Engagement der Klasse betonten, erhielten die Jugendlichen ihren wohlverdienten Preis: Eine Urkunde und 500 Euro für die Klassenkasse. Aus den geöffneten Fenstern der umliegenden Klassenräume schallte lauter Applaus.
Neben Glückwünschen der Schulleiterin Viktoria Spitzauer erhielten die Schüler einen bewegenden Brief von Wendy, Bergerons Tochter. Paul, ein Schüler der 6b, trägt die Worte bei der Preisverleihung spontan vor. Sie sind in englisch geschrieben, doch Paul übersetzt gekonnt: Wendy sei sprachlos. "It's truly a gift", schreibt sie. Es ist ein echtes Geschenk.
Eine Kette mit einem hölzernen Anhänger in Form einer Friedenstaube erhält jeder Schüler am Ende der Feier. Sie soll den Frieden symbolisieren. Das geben die Lehrerinnen den Schülern zum Abschied mit auf ihren Weg.
July 24, 2020 at 02:27AM
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"Es ist ein echtes Geschenk" - Süddeutsche Zeitung
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